Freitag, 5. Juni 2009

Ich würde mir wünschen sie hätten Angst vor mir

Sandy's Buch, Kapitel 1:

Ein Besuch beim HNO steht an. An sich nichts Großartiges und nicht so schrecklich wie etwa ein Besuch beim Zahnarzt oder beim Proktologen (kenn ich nur aus Charlotte Roche's Buch), die Praxis sieht supermodern aus und es riecht auch gar nicht nach Arzt wie sonst überall. Es gibt einen fetten Flachbildfernseher und Charleston Musik. Man muss auch sein Handy nicht ausschalten und die Leute unterhalten sich nicht im Flüsterton. Sie schreien lautstark in ihre Handys, um die Lieben daheim wissen zu lassen, dass sie nun beim Arzt im Wartezimmer hocken. Wirklich wichtige Informationen muss man sofort weiter geben. Und Mobilfunkunternehmen müssen auch leben.
Die beiden Sprechstundenhilfen sind glaub ich auf irgendeiner Droge, sie grinsen nicht nur, sondern sie lachen laut schreiend, nehmen Patienten auf die Schaufel und zeigen mir ihre Mahnungen, die von irgendeinem Internetdienst eingetrudelt sind, wo sie sich nun beschweren wollen. Mit mäßigem Erfolg, denn die Nummer in Deutschland ist nur eine weitere Abzocke, ein SMS Dienst und eine kostenpflichtige Hotline...
Im Wartezimmer sitzen 2 Möchtegern-Models, aufgetakelt bis dort hinaus, Stöckelschuhe, Röhrenjeans. Sie lesen Fachliteratur, die Bunte oder die Gala, so genau kann ich das nicht sehen, aber sie zerpflücken jedes Foto und kennen jeden Star und jedes Model in der Zeitschrift persönlich, denn "so sieht die nicht aus, das ist alles nachbearbeitet". huhuuuuuu... Dann wird eine von den beiden, Anschelina Sonstnochwie aufgerufen. Sie hört schlecht. Hat 30% Hörvermögen eingebüßt. Vermutlich ein Mal zu viel auf einem High Society Event abgefeiert. Bei der Diskretion der Sprechstundenhilfen war das für Leute mit funktionierendem Gehör nicht zu überhören. Aber vielleicht gehen sie ja davon aus, dass alle ihre Patienten einen Hörschaden haben?
Die Schwester von Anschelina Sonstnochwie ruft ihren Freund an. Ein weiteres wichtiges Gespräch, das keinerlei Aufschub duldet. Ob Schatzi schon zu Hause ist, will sie wissen. Und ob Schatzi schon gegessen hat.... Oh Schatzi hat nichts zu essen gefunden.... Krise... Schatzi versteht die Schwester von Anschelina Sonstnochwie nicht und obwohl die Schwester von Anschelina Sonstnochwie eh schon ins Telefon reinbrüllt, meint sie dann sie könne nicht so laut reden, denn sie sitzt ja schließlich beim Arzt im Wartezimmer.
Der Lärmpegel hat inzwischen eine unerträgliche Lautstärke erreicht, denn die tüchtige Geschäftsfrau in der Ecke brüllt gleichermaßen in ihr Handy, da ihre Freundin in der UBahn sitzt und zu dumm ist den Weg allein zu finden. Nach dem vierten Mal "Du musst bei der Station Stadtpark aussteigen" bin ich drauf und dran, der Frau das Telefon aus der Hand zu reißen und ihrer Freundin den Tip zu geben sie soll sich doch einen Stadtplan kaufen oder sich vor so einer abenteuerlichen Reise ansehen wo sie eigentlich hinwill.
Es kommt mir fast wie die Erlösung vor als der Arzt meinen Namen in das Mikro haucht. Gut hauchen war jetzt übertrieben, aber er hat eine sehr angenehme Stimme. Und er ist bisher der einzige, der meinen Titel gendermäßig richtig ausspricht. Nicht dass mich mein Titel oder diese Gendergeschichte irgendwie jucken täten, aber die alten Lateiner (und nach 6 Jahren Latein in der Schule weiß ich wovon ich rede) würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie diese groben Titelfahrlässigkeiten mitbekommen würden. Es ist ja so als würde man jemand mit Herr Lehrerin anreden. Denn ich bin ja eine Lehrerin - Magistra. Sollte ich vielleicht Nicht-Magistren ab sofort mit "discipuli" anreden? Nur was könnte ich meinen Discipuli beibringen? Blöd reden auf jeden Fall ;-)
Beim Eintreten in das Behandlungszimmer schreckt es mich nicht mehr so wie beim ersten Mal. Als ich den Arzt das erste mal sah, hatte ich wirklich Angst. Er ist zwar ein kleiner Mann, der sicher nicht schnell laufen kann, aber er hat irgendwas Frankenstein-mäßiges an sich. Er hat einen strengen Blick und ein unheimlich emotionsloses Gesicht. Er sieht mich durchdringend an und zeigt keinerlei Regungen sodass ich nicht weiß, ob das jetzt gut oder schlecht ist, was er gesehen hat. Er ist auch so gemein und sagt mir nicht wohin er dir mit seinen entsetzlich langen Sonden schauen will. Er kommt mir mit diesem langen nadelähnlichen *grusel* Ding entgegen, ich mache bereitwillig den Mund auf, aber er will damit in die Nase rein 8-/
Ich weiß auch nicht, wer ihm dazu geraten hat, dieses komische Spiegeldingsbums auf dem Kopf zu tragen, aber nach dem heutigen Besuch weiß ich, dass er mit Sicherheit Mary Shelley's Frankenstein gelesen hat und sich so den Professor wohl vorgestellt haben muss. Ich sah ja im Wartezimmer ein Foto von ihm, wo er das Spiegeldings auch auf dem Kopf hatte - da dachte ich mir noch, er macht das für das Foto, damit er professionell aussieht. Aber er trägt das echt andauernd und er verwendet es auch gar nicht. Ich glaub, das gibt ihm einfach nur ein cooles Gefühl. So wie andere einen Hut aufsetzen, setzt er sich wohl schon daheim, gleich nach dem Aufstehen sein Spiegeldings auf. Oder vielleicht setzt er es gar nicht ab? Na den möcht ich nicht in einem Gewitter erleben.
Schließlich sind wir nach der Nasenschau an dem Punkt angelangt, wo er sich noch eine dickere und längere Sonde schnappt und damit in meinen Hals runter schaun will. Es ist entsetzlich. Nicht nur der sofort einsetzende Würgereflex, sondern auch die Angst, er verkeilt sich da unten und die Sonde bleibt in meinem Hals stecken, treiben mir die Tränen in die Augen. Und er akzeptiert es auch gar nicht, wenn man wie ein Vogel mit den Armen fuchtelt, weil man kurz davor ist, ihm in den Schoß zu kotzen. Ein kurzes "Hören Sie auf rumzufuchteln" von ihm und ich ergebe mich meinem Schicksal. Wurscht. Wenn ich kotze muss eh die Sprechstundenhilfe auf Drogen wegwischen. Und die findet das vermutlich auch noch lustig.
Nachdem er seine unfassbar gemeine Sonde aus meinem Hals gezogen hat und ich mir meine Tränen wegwische meint er:
"Bei mir weinen sie alle. ------ Oder sie würgen. Ich hab eh schon mal mit meinem Psychiater darüber gesprochen, dass alle Leute bei mir immer würgen."
Ich kann mir vorstellen, dass das nicht nett ist und versuche nett zu sein: "Naja aber das ist doch noch besser als Zahnarzt zu sein, wo die Leute vorher schon entsetzliche Angst haben."
Er sieht mich an und meint: "Oh ich würde mir wünschen, dass die Leute Angst vor mir haben."
............................
Ich nehme das seitenlange Rezept entgegen und mache mich auf dem schnellsten Weg auf nach draußen. Wer weiß wann hier die Türen nicht mehr aufgehen............






P.S. Das ist eine WAHRE GESCHICHTE - gestern erlebt

Mein Buch braucht noch einen Titel - hinterlasst mir einen Kommentar mit euren Ideen

XOXO Sandy

10 Kommentare:

  1. Dir treibt es die Angst- und Würgtränen aus den Augen, mir die Lachtränen. Bei der Vorstellung vom Spiegeldings im Gewitter wäre mir vor lauter Lachen fast der O-Saft bei der Nase rausgekommen - glücklicherweise muss man mit so etwas nicht zum HNO - zumindest nicht zu Deinem ;-)

    Ein Titel für Dein Buch - keine Ahnung, aber DIR wird sicher etwas Geniales einfallen!

    Bitte schnell das Buch publizieren - ich kaufe es mir und empfehle es weiter und verschenke es als Weihnachts-, Geburtstags- und Namenstagsgeschenk!

    Liebe Grüße
    S.

    AntwortenLöschen
  2. Weiß wer wie das Spiegeldings heißt? Ich hab versucht es über Google zu finden, bin aber gescheitert. Wollte ein cooles Bild dazu finden, damit man sich den Arzt annähernd vorstellen kann. Außerdem wüsst ich gern wozu das eigentlich gut ist.

    AntwortenLöschen
  3. Sandy, dieses Buch mußt du wirklich schreiben! ... ich mach's dann wie Sindra und kauf es mir und verschenke es! ... einfach herrlich geschrieben!!

    AntwortenLöschen
  4. Ich lach mich kaputt! super geschrieben:-)...ja, und ich kann es mir sehr gut bildlich vorstellen;-)...

    AntwortenLöschen
  5. Du kennst ihn schließlich ja Sanna. Ich glaub ich werde mir eine chronische eingebildete Krankheit zulegen, nur damit ich weiter hingehen kann. Dann kann ich in einem Jahr mein Buch herausgeben :-) "Geschichten einer eingebildeten Kranken"

    AntwortenLöschen
  6. somit wäre der titel auch jetzt schon klar! :-))

    AntwortenLöschen
  7. Hallo Sandy! Ich glaube du meinst einen Stirnspiegel?!?! Schau' mal bei den Google Bildern, ob dass das Richtige ist.

    Eine super Nacherzählung!!!

    LG Tanja

    AntwortenLöschen
  8. muha :) ich schmeiß mich weg ;) sehr genial! ich freu mich auch schon auf's buch sandy :D

    AntwortenLöschen
  9. Ja genau Tanja das ist es - wär eigentlich eh ein offensichtlicher Name :-) und jetzt weiß ich auch wie das funktionieren soll.. aber der Arzt verwendet das nie, er trägts nur auf dem Kopf. Ich glaub der findet das leiwand so auszusehen.

    AntwortenLöschen
  10. Nachdem er deiner Erzählung nach, ja nicht zu den Schönheiten zählt muß er sich mit Spiegeln und anderm Zeugs in Szene setzen.

    Ich für meinen Teil kann dir nur gratulieren, bitte weiterschreiben und verlegen - ich kaufs auch und verschenke es. Ist nähmlich zum niederknien und ich lach mich noch immer schief

    LG
    Susanne

    AntwortenLöschen